Stadt körper Denken

Kontext & Konnex / Die Verflüssigung der Kunst


Das gesichtslose Gesicht und der charakterlose Charakter der Megastädte, die monotone Austauschbarkeit und die sterile Wiederholung moderner Agglomerationen, sei es nun in Rom, London, Bombay oder Kairo, führt zur Frage: "Viele Städte oder eine einzige Stadt?"

Das Auslöschen der Eigenarten der Städte, das Einschmelzen der Pole Stadt und Land, der Verlust von Mitte und Rand, das Verschwinden der Topographie, die Neutralisierung der Umwelt, das "Ende des Physiognomischen der Städte" fällt, so der Philosoph Harmut Böhme, mit dem Ende des konturgebenden und spurenlesenden Denkens zusammen. Die Stadt und das städtische Denken befinden sich in der Krise. Werden Stadtplanung und Philosophie inskünftig zu Inszenierungen der Ungewissheit verkommen? Ein unbestimmtes Schicksal erwartet die Stadt. Ein unbestimmtes Schicksal auch für die Intellektuellen und Künstler?

Auffallend ist an der Gegenwartskunst, dass sie weniger auf der Flucht als vielmehr flüchtig geworden ist. Der Blick auf die Kunst hinterlässt den Eindruck von Unendlichkeit, von Entgrenzung, von Verflüssigung und Immaterialität. Die Beweglichkeit und Ungreifbarkeit ist ein Hauptthema der Kunst, vor allem der Malerei der Gegenwart, die sich der Fixierung auf eine bildliche Objektivität entzieht, ohne, wie das Beispiel Palermo zeigte, auf Medien der Immaterialität zurückgreifen zu müssen.

Den Aufbruch zu einem freien Spiel der Kräfte, sprich zu einer neuen Beweglichkeit, propagiert das Wiener Künstlerpaar Sabine Bitter & Helmut Weber. Es ist die Fähigkeit, Orte zu nutzen und sich die Stadt anzueignen, bevor sich die reglementierende Hand von Behörden darauf legt. "Als Gejagter schneller zu sein als der Jäger, bringt Unordnung ins Bild", formulieren die Künstler programmatisch. Es geht ihnen um die bewegliche Unterwanderung bestehender Konventionen und Strukturen wie auch um den konkreten Umgang mit dem Widersprüchlichen: "Aus einer notwendigen Beweglichkeit vor Ort", notieren Bitter & Weber, "entstehen Objekte und Prototypen, die in gleicher Weise konfliktträchtige Hintergründe und die Fähigkeit ihrer Bewältigung aufzeigen."
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Wenn Bitter & Weber griechische Vorsilben als Verweise aufs kollektive Erbe mit den abstrakten "Superzeichen" glokaler Städte verschränken, dann gehen Wort und Bild, wie die Pendelbewegung des Wahrnehmens in der Stadt, eine wechselvolle Verbindung ein. Das Wechselspiel zwischen unscharfem Bild und scharfem Begriff schafft, wie das Künstlerpaar schreibt, "Formationen des Urbanen, nicht als Bild der Stadt gemeint, sondern vielmehr als urbane Strömungslehre zu verstehen, die Fragen aufwirft wie: Wo entstehen Plätze, wo werden Interessen verdichtet, Beziehungen geknüpft, Raster geformt ... ?" [19]

Heutige Kunst verhält sich wie ein Wirbelwind, agiert von einem mobilen kritischen (Nicht-)Zentrum aus. Sie ist über zahlreiche Orte verstreut, ins soziale Leben der Städte integriert und zugleich beweglich (vom Abort über die Küche und die Umkleidekabine bis zum Zoo). Ein Ort wird nicht als Kunstort verstanden, sondern als Ort des Werks, als Kontext für Kommunikation, als Wirkungs- und Handlungsspielraum. Diese kulturelle Praxis will vielmehr die diskursive, dialogische und ästhetische kontextuelle Eingebundenheit von Kunst reflektieren.

Wenn neu Un-Orte bzw. Nicht-Orte für die Kunst entdeckt und bespielbar gemacht werden, bedeutet das ins Griechische und damit in die Kenntlichkeit übertragen: "Utopie". Der Ort der Kunst ist die Ortlosigkeit. Die ortlosen Interventionen der Gegenwartskunst sind die Zeichen einer Kunstlust auf das Verschwinden der Stadt.

Vnser Bild von der Stadt wird nicht die Stadt abgeben, sondern das im doppelten Wortsinn flüchtige Bild von der Stadt. Die Bild-Sprache muss in spielerischen Übungen neue Verknüpfungen herstellen zur Stadt in unserem Gedächtnis, ja sogar, wie im Mittelalter, zur Stadt, wie wir sie täglich mit unseren fünf Sinnen sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen. Entscheidend ist nicht nur eine neue Kontextualisierung der Stadt in der Kunst, sondern darüber hinausgehend die Konnexion, das Verknüpfen und Verflechten der Stadt mit dem eigenen Körper und Denken - und neu mit den Surfern im Cyberweb. Denn die Zukunft der Stadt ist die Zukunft des Körpers und diese wiederum die Zukunft des Denkens - und umgekehrt. Stadtkörperdenken meint eben auch Denkstadtkörper, und weiter: Körperdenkstadt, Stadtdenkkörper, Denkkörperstadt und nicht zuletzt Körperstadtdenken.

© Paolo Bianchi,
Baden, 30-5-1995



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