Stadt körper Denken

Vertikal & horizontal / Die Kultur des Unterschieds (New York)


Der amerikanische Soziologe und Kulturhistoriker Richard Sennett hat nach seinem vielgerühmten Buch "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität" (dt. 1983) ein neues, hier anknüpfendes Buch mit dem Titel "Civitas. Die Grossstadt und die Kultur des Unterschieds" (dt. 1991) geschrieben: eine Strukturanalyse der urbanen Lebenswelt und ihrer sozialen, architektonischen und existentiellen Formensprache, die durch ihre originelle Optik besticht.

In bezug auf die moderne Grossstadt und das Leben in den Metropolen lautet Sennetts These: Die Lebenswelt wird als radikal zweigeteilt erfahren, Arbeitsort da, trautes Heim hier. Selbst das Haus wird in öffentliche und private Zonen unterteilt, Gesellschaftsräume hier, Schlaf-, Kinder- und Badezimmer dort. (Ganz im Gegensatz zum 18. Jahrhundert, wo das Haus einer überdachten Strasse glich.) Das Haus ist unser Refugium, der Schauplatz der Innerlichkeit. Heimatverlust wird durch obsessive Hauspflege kompensiert. Der Rückzug in häusliche Schutzzonen, die émigration intérieure, das innere Exil verschärft die isolierenden Trennungen und Ungleichheiten zwischen den Menschen. Weiter ruft der Verlust der Stadt als öffentlicher Schauplatz des Lebens in uns Gleichgültigkeit, Prozesse der Zerstückelung, der Entfremdung, der Einsamkeit und der Vereinzelung hervor. Strassen und Plätze werden zu Orten derAnonymität, Kälte und Leere. Das Paradebeispiel dafür ist New York.



An einer Stelle kommt Robert E. Park, Chicagoer Stadtsoziologe der zwanziger Jahre und heimliches Vorbild von Sennett, zu Wort: "Weder der Kriminelle noch der Kranke, noch das Genie haben in der Kleinstadt die Chance, ihre Veranlagung zu entwickeln, wie sie sich ihnen in der Grossstadt unweigerlich bietet."[15]

In dieser Abweichung von der Norm erblickt Sennett die Freiheit der Grossstadt, nicht nur ein Ort zu sein, der Unterschiede zulässt, sondern einer der die Konzentration von Vielfalt fördert und begünstigt und so die "Kultur des Unterschieds" (wie der Untertitel des Buches heisst) überhaupt erst möglich macht. Hieraus könnte eine humane, narrative Stadt entstehen, eine Stadt der Verschiebungen, Begegnungen und Querungen, ähnlich wie es die 14. Strasse zwischen Fourth und Sixth Avenue darstellt. Zuvor müsse jedoch, so Sennett, die "nicht-lineare Erfahrung des Unterschieds" wirksam werden oder, anders gesagt, eine émigration extérieure.

Das wiederum verlangt die Freisetzung künstlerischer Energien im Alltag, von Energien, die Komplexität, Verschiebung (statt Linearität), Widerstand und Differenz nicht einebnen, sondern zulassen. Mit dem "Sich-Einlassen auf den Unterschied", mit der "Bereitschaft, das Unfeste, das Nicht-Dauerhafte, den Zufall zu akzeptieren", wären Voraussetzungen gegeben für die Versöhnung von Urbanität und Menschlichkeit, für die Rückgewinnung einer visuellen Kultur des Unterschieds.

Sennett sieht New York mit den Füssen. Als Stadtwanderer führt er die Leser durch New Yorks Quartiere, Strassen und lange Avenues, die dem Prinzip des gliedernden und trennenden Gitters gehorchen, um mit einem Blickwechsel von der horizontalen Ebene in die vertikale der sich erhebenden Wolkenkratzer, dieser stehenden Stadtgitter, zu münden. Für das horizontale und vertikale Expansionsmodell der Stadtentwicklung findet Sennett eine drastische Entsprechung in der Geschichte: "Bei der Schaffung ihrer Gitterstädte gingen die 'neuen' Amerikaner genauso vor wie bei ihrer Begegnung mit den eingeborenen Amerikanern: Sie kolonisierten das fremdartige Andere nicht, sie löschten es aus. Statt den Raum mit Sinngehalt auszustatten, wurde Herrschaft durch Neutralisierung des Raums wirksam."[16]

"New York", resümiert Sennett, "könnte die ideale Stadt für die Preisgabe an die Aussenwelt sein. New York regt die Einbildungskraft an, weil es die Stadt der Unterschiede par excellence ist, eine Stadt, die ihre Bewohner auf der ganzen Welt gesammelt hat." [17]

Der deutsche Maler Blinky Palermo (1943-1977) kehrte nach einem dreijährigen Aufenthalt in New York 1976 nach Düsseldorf zurück, wo er eine gemalte Hommage an die Bürger der Metropole begann: "To the People of New York City". Er vollendete das 15teilige Werk kurz vor seinem Tod. Palermo abstrahierte, ja er transzendierte schon beinahe seine Stadterfahrung zu Farbeindrücken, die in ihrer genau festgelegten horizontalen Abfolge wie ein ganz eigenes Panorama der Big Apple Skyline wirken.

Palermo hat Tafeln benutzt, in die er ein Farbquadrat ins Zentrum setzt, mit zwei einander gegenüberliegenden Streifen am Bildrand. Die Farbgebung ist immer die gleiche: Rot, Gelb und Schwarz, pro Tafel kommen zwei verschiedene Farben zur Anwendung. Sennett schreibt in seinem Buch: "Ein Spaziergang durch New York offenbart, dass die Differenz und die Indifferenz gegenüber den anderen Menschen ein eng umschlungenes, unglückliches Paar bilden. Das Auge nimmt Unterschiede wahr, auf die es mit Gleichgültigkeit reagiert." Palermo hat keine Stadtansichten gemalt, er hat, jenseits gängiger Polaritäten, den Pulsschlag der Stadtmenschen als spannungsvolles, energiegeladenes Spiel voller Leuchtkraft eingefangen. Auf einer Tafel taucht plötzlich eine vertikale Linie auf, rechts davon ein gelbes und schwarzes Rechteck unterschiedlicher Grösse, links davon rot ein weiteres Rechteck und ein gelbes Quadrat. Die vertikale Linie als Fremdkörper bringt Unruhe in die Ruhe und Unordnung in die Ordnung. Widersprüche und Unterschiede fallen auf: Die insgesamt 40 mit dem Pinsel bemalten Aluminiumtafeln sind ein kaltes Material, das mit den warmen Farbkompositionen kontrastiert. Die streng geometrisch getrennten Farbfelder weisen bei näherer Betrachtung "unsaubere" Stellen auf, die einander überlagern. Aus diesen feinen Überlagerungen ergeben sich komplexe, offene Grenzen. Offene Grenzen, würde hier Sennett intervenieren, sind Räume der Preisgabe an den Unterschied, an das Anderssein. Stadtdenker Sennett: "Bewusstsein von Grenzen auszubilden bedeutet, dass man im gesellschaftlichen Leben weder die Vorherrschaft gewinnt noch unterliegt, sondern dass man den Raum dazwischen einnimmt."

Palermo hat - um einen Begriff von Sennett zu benutzen - "zentrierte" Bilder gemalt, was nicht harmonische oder sentimentale Verlockung meint. Bilder, die er nicht wie Tausende vor ihm der Stadt, sondern - eine ganz grosse Ausnahme - den Menschen einer Stadt widmete. Ob Palermo eine "zentrierte" oder ausgeglichene Gesellschaft visualisieren wollte, bleibt Spekulation. Fest steht dagegen, dass Palermo mit der Hommage an die Menschen in seiner zweiten Heimat New York City einen Balanceakt vollzogen hat: als Equilibrist setzte er seine eigene Identität in den Mittelpunkt (Schwarz, Rot und Gelb sind die Farben Deutschlands), um sich von hier aus als ein mit anderen verbundendes Wesen zu begreifen.



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