Stadt körper Denken
"Reality Sucks ... Try Virtual Reality" / "Hallo, wer bist du?"
Die Stadt ist ein Raum, wo sich eine Vielfalt von Beziehungen entspinnen,
wo Informationen ausgetauscht werden, wo Kommunikation aller Art
stattfindet. Das macht die Stadt so progressiv. Das passiert seit
zweitausend Jahren auf dichtem Raum wie in einer Sauna und macht aus der
Stadt die konzentrierte Darstellung der westlichen Zivilisation
schlechthin. Die Stadt ist seit der Antike die kulturtragende Siedlungsform
der Menschen. Doch in den heutigen Megalopolen der Computer- und
Telekommunikation, den Telepolen, hat die Informationsexplosion einen
Kommunikationsoutput zur Folge, der keinen Sinn mehr transportiert.
Stanislaw Lem prophezeit, dass das "elektronische Höhlenzeitalter" sich zu
einem mit "der Hölle gekreuzte Form des Paradieses" entwickeln wird.
[3]
In Amerika herrscht dafür positiv thinking: "Das Informationszeitalter wird
die Menscheit revolutionieren. Ein neues Zeitalter bahnt sich an, das
unsere Begriffe von Realität und Leben grundlegend verändern wird", hallt
es aus dem Multimedia-Mekka San Francisco nach Europa herüber. "Reality
Sucks ... Try Virtual Reality" - im Datennetz Internet surfen Künstler
zusammen mit rund 35 Millionen anderen Nutzern mit Lichtgeschwindigkeit um
den Globus, erproben im Cyberspace Spielregeln und Möglichkeiten und loten
so neue Schnittstellen zwischen Kunst und Öffentlichkeit aus.
An Datenbanken dockt sich "eine bunt gemischte Ansammlung von
Unterdrückten, Verrückten und Drückebergern an: Dissidenten aus
Wohlstandsautokratien wie Singapur, die in elektronischen Foren ihr Regime
attackieren; Sektenaussteiger, die über das Internet vor den Machenschaften
der Gurus warnen; oder Anhänger der freien Liebe, die unerkannt über
Phantasien und Perversionen plaudern wollen". ("Spiegel", 20/95)
Arthur K. wäre lieber barfüssiger Dichter als Werbe-Yuppie im Leinendress,
wie der junge deutsche Autor Michael Kleeberg in seiner Novelle "Barfuss"
schildert. Als K. in seinem Büro sitzt und am Minitel (französischer
Bildschirmtext) die Börsenkurse abrufen will, gerät er per Zufall in einen
Sado-Maso-Service. "Eine Müdigkeit, sich nach vorn zu beugen", hält ihn
davon ab, die Verbindung mit dem "Zwischenreich der Lust, Sklavenhändler
und Sklaven" zu unterbrechen. So nimmt das Fatum seinen Lauf: "Suchst du
Ekstase, tippe weiter." K. tippt.
Die Stadt befindet sich heute an der Schwelle einer Revolution nicht nur
der Kommunikation, sondern der Telekommunikation: Die Besiedlung findet
nicht mehr nur in der Dimension des Raums statt, sondern auch in der
Dimension der Zeit. Die Stadt, etwa Berlin oder Paris, ist eingebunden in
eine konzentrische Figur, ist nur noch ein Trabant, der sich wie die
Weltstädte der anderen Kontinente auf ein Zentrum bezieht: die virtuelle
Stadt.
Die virtuellen Welten bringen, wie Florian Rötzer diagnostiziert, "immer
perfektere Mensch-Maschinen-Syteme" hervor: "Der Mensch wird immer mehr zum
integrativen Bestandteil eines biotechnologischen Systems. Die
Verschränkung wird immer enger. Gleichzeitig gibt es den Kult um den
fleischlichen Körper: soll er bewahrt, geschützt, perfektioniert werden,
wird er überhaupt erst wirklich entdeckt, erscheint er, mitsamt dem Gehirn,
als das eigentliche Menschliche?"[4]
Wer kennt die Antworten auf weitere Fragen wie: Stiftet das digitale
Datennetz etwa das gleiche Gefühl von Gemeinsamkeit wie das Netz der
Autobahnen oder das Telefonnetz? Oder wird die interaktive und vernetzte
Stadt, die Telepolis, Raum und Zeit aufheben, kulturelle Grenzen auslöschen
und Kontinente und Menschen näher zusammenbringen und aus den
Netzgemeinschaften Sozialutopien wachsen lassen? Ist die Koloniasierung
dieses immateriellen, vernetzten Reiches die endgültige Vernichtung der Utopien?
Oder wird lediglich der Markt über die Politik triumphieren? Konsum
statt Kommunikation? Überhaupt: Welche Gruppen werden das Internet benutzen
und ihren Nutzen daraus ziehen? Und was passiert bei Stromausfall?
Menschen aus verschiedenen Ländern können sich in virtuellen Räumen treffen
und miteinander sprechen, aber was haben sie sich wirklich zu sagen?
Besteht das ganze Amüsement darin, ein "Hallo, wer bist du?" in ein
anonymes Netz zu rufen, um darauf ein "Hallo, wo bist du?" als Antwort zu
erhalten?
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