Stadt körper Denken

Marktplatz & Metastadt
Rettungsbojen für sesshafte Stadtnomaden (Paris)



"Die Gestalt der Stadt ist im Begriff, sich aufzulösen", meint der Pariser Professor für Urbanistik Paul Virilio und enwirft ein düsteres Szenario über die Zukunft der Stadt: "Damit entzieht sich alles, aber auch alles der Regierbarkeit: die Demokratie, die Polizei, der Krieg, die Epidemie, die Mörder, die Bevölkerungspolitik, alles fliegt auseinander. Die politische Gestaltung der Stadt hielt die politische Entwicklung der Gesellschaften zusammen; mit dem Dorf, dem Marktplatz und dann der Stadt hat der Prozess der Gestaltung begonnen. Jetzt explodiert das Ganze. Es ist buchstäblich eine Explosion; das ist keine Metapher."[5]

Virilio spricht über die virtuelle Stadt und skizziert die Lage bildhaft: "Hier ist Singapur, hier ist Kalkutta, hier ist Rotterdam, das sind die Vorstädte der virtuellen Stadt. Die elektronischen Netzwerke fördern die Entwicklung dieser virtuellen Stadt. Die Datenautobahn wird eine virtuelle Stadt schaffen. Im Zuge dieser noch nie dagewesenen Hyperzentralisierung entsteht die Weltzeit. In der Vergangenheit entwickelten sich die Städte im Rahmen lokaler Zeiträume, deshalb unterscheidet sich die Geschichte Frankreichs von der Geschichte Deutschlands oder Italiens. Die Zeitzonen, der Wechsel zwischen Tag und Nacht, spielten noch eine wesentliche Rolle. Künftig gibt es keine lokale Zeit mehr. Es gibt nur noch die Weltzeit, die Gleichzeitigkeit: sieben Tage in der Woche, 24 Stunden am Tag, live. Interaktivität und Datenautobahnen werden neue Massstäbe setzen auf Weltzeitniveau. Der einzige Bezugspunkt wird die astronomische Zeit sein, die universale Zeit der Astronomen und Astrophysiker."

"Die Metastadt", so der Stadtphilosoph Virilio, "zieht alles an sich, sie zieht die meisten Menschen an, weil sie über Macht und Reichtum verfügt. In der Zeit der Live-, der Direktübertragung, der Telearbeit entsteht die virtuelle Stadt: die Hauptstadt der Hauptstädte. Und alle Weltstädte der Erde werden zu Vorstädten dieses abstrakten Zentrums ... Die Dezentralisierung der Arbeit dank Telekommunikation hat sich als Illusion erwiesen, statt dessen entstehen Megastädte, Städte, die man glokal bezeichnen kann, weil sich gleichzeitig lokal und global verankert sind." Eine seiner Hauptthesen liebt Virilio immer wieder vorzutragen: "Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Teilhabe an der Geschwindigkeit den sozialen Status zuweist." Es gibt Menschen, die mit der Realzeit und einem Höchstmass an Mobilität leben: urbane Nomaden mit Zugang zum elektronischen Netzwerk über Fax, Telefon, Computer und Modem. Aber ebenso gibt es Menschen, die mit Weltzeit und Datenautobahn überhaupt nichts zu tun haben, die nicht einmal mehr Arbeit haben und ein ungemütliches Nomadendasein in Armut fristen. Wer in den Strudel von Arbeits- und Obdachlosigkeit gerät, sitzt in einem Teufelskreis fest: "Keine Arbeit ohne festen Wohnsitz, keinen Wohnsitz ohne feste Arbeit."

In London leben 50 000 Menschen ohne festen Wohnsitz. In Frankreich schwankt die Zahl der Obdachlosen zwischen 300 000 und 400 000. Europaweit werden mittlerweile 18 Millionen Arbeitslose und 3 Millionen Obdachlose gezählt. Waren die achtziger Jahre das Jahrzehnt der Arbeitslosigkeit, so drohen die neunziger Jahre zum Jahrzehnt der Obdachlosigkeit zu werden. Le Corbusier sah die Stadt als einen Passagierdampfer. Sie sinke wie ein Dampfer und diesem Schiff mangle es an einem Rettungskonzept, es drohe ihm der soziale Untergang, warnt Virilio. Er will deshalb in Paris, Lyon und Marseille "balises desurvie" (Rettungsbojen) auswerfen. Die erste Boje soll in Kürze, nach Ablauf des Bewilligungsverfahrens, in Paris stehen. Auf 100 bis 150 Quadratmetern bietet sie Platz für Empfang, Schliessfächer, Telefone, Briefkästen, Duschen, Waschmaschinen und Informationen über Stellenangebote. Eines ist jedoch ausgeschlossen: Die Rettungsboje bietet keine Schlafplätze. Aufgebracht werden sollen die rund 250 000 Mark pro Boje von Firmen, die dafür an den Fassaden ihre Werbetafeln anbringen können.

Standort der Bojen ist jeweils das Stadtzentrum, nicht die Vorstadt. Das Los der Obdachlosen soll nicht versteckt, sondern ins öffentliche Bewusstsein gerufen werden. Im Rahmen eines Architekturwettbewerbs der Firma Butagaz sind 507 Projekte eingereicht worden, wovon elf ausgewählt und drei davon wiederum prämiert wurden. Eines der ausgezeichneten Teams - Buri, Morand und Vaucher - sah die Aufgabe der Rettungsbojen-Gestaltung darin, ein Haus "zwischen Möbel und Gebäude" zu erstellen: für Menschen, die sesshaft nomadisieren. Die Bojen sollten die angrenzenden Gebäude "einkleiden, kontextuell zu ihnen werden". Virilio meint: "Die Notlösung der Rettungsboje hat freilich nicht den Anspruch, die Fragen des Städtebaus und der Gesellschaft von morgen zu lösen. Es handelt sich ganz einfach um eine Therapie."[6]



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