Paolo Bianchi


Stadt Körper Denken Skizze über die Lust am Verschwinden der Stadt

"Die Stadt ist die eigentliche Biographie des Menschengeschlechts, Objekt der Natur, Subjekt der Kultur". (Claude Lévi-Strauss)


  1. Prolog
  2. "Reality Sucks ... Try Virtual Reality" / "Hallo, wer bist du?
  3. Marktplatz & Metastadt Rettungsbojen für sesshafte Stadtnomaden (Paris)
  4. Paranoia & Barbarismus / Das Sarajevo Ghetto-Theater
  5. Apokalypse & Agglomeration / Der urbane Wahnsinn ist überall
  6. Vertikal & horizontal / Die Kultur des Unterschieds (New York)
  7. Kontext & Konnex / Die Verflüssigung der Kunst


Prolog

Urbanität und Kulturleben gehören zusammen wie das Gel zum Haar. Fehlt das Parfum des Schönen, röchelt der Solar plexus der geist- und kulturlosen Stadt aus jenem letzten Loch, vor dem selbst Madonna zurückschrecken würde, ihren zwischen lasziven Lippen angefeuchteten Finger zwecks Diagnose und Therapie reinzustecken. Wie die Freiheitsstatue New York verkörpert, so ist das italo-amerikanische Pop- und Sexidol mit der archaischen Geometrie ihres Sadomaso-Looks, der zwischen nomadisierender Sammlerin und primitiver Jägerin oszilliert, die perfekte Projektionsfläche für kollektive Phantasien um die sagenumwobene "grosse Hure Babylon". Die Primadonna des Voyeurismus füttert gierige Blicke, desgleichen der Krieg in Bosnien: Dies sagt einiges aus über die tödliche Bildschirmgeilheit unserer Zeit. Die automatische Bedienung aller Kanäle und die Erfüllung aller Wünsche verströmt ekstatische Langeweile.

Der Maler und Zeichner George Grosz (1893-1959) hätte seine helle Freude an Madonna gehabt, erscheint doch in seinen Bildern die Frau immer wieder als aggressives sexuelles Objekt - und die Stadt Berlin in den zehner Jahren als aufgedonnerte Hure, die mit ihrem forschen Auftreten die Groszschen Spiessbürger sowohl in Angst als auch in Entzücken versetzte - oftmals sind die grössten Moralisten zugleich die (un)heimlichsten Geilböcke. Grosz hat 1948 in New York das Gemälde "Der Maler des Lochs I" gemalt, worauf er ein Loch als Bild im Bild erscheinen lässt. Eine Kritik an die verhassten Herrschaftsgesten der Avantgarde, wie Kritiker deuten. Der Lochmaler ist ein Wesen ohne Körper, ein no-body vor einer durchlöcherten und leeren Leinwand. "Diese in Grau gemalten Allegorien über Niemand, Nichts und Nirgendwo bezeugen den Endpunkt der nihilistischen Weltverzweiflung von Grosz."
[1] In einem von Pessimusmus geprägten Brief schreibt Grosz aus New York: "Ich lebe hier wie ein Freibeuter, das kannst Du wohl glauben. Ich spiele den 'berühmten Künstler', aber hinter der Berühmtheit ist ein grosses Loch ..."[2] Amerikanische Künstlerfreunde vermuten, Grosz sei an der Ambivalenz der amerikanischen Grossstadt gescheitert. Wahrscheinlicher ist, dass die puritanische Welt Amerikas, in die Einwanderer Grosz positiv und hoffnungsvoll gestimmt eintrat, ihn zutiefst lähmte, und vom ersehnten Himmel sich zur Hölle der Langeweile wandelte.

Mit der Multiplikation der Fernsehkanäle ist es zum Programmierungsstau im Videorecorder gekommen, der sich zwei-, drei- und mehrteilen müsste, um gleichzeitig all das Sehenswerte zu speichern. Führt die Bilderflut zum Bilderstau im Kopf? Im Gegenteil: Dem Übergang vom Körpergedächtnis durch Hören und Sehen zum Schriftgedächtnis im Mittelalter folgt jetzt durch die Expansion der elektronischen Medien ein Medienwechsel hin zum Bildgedächtnis. Es zählt nur noch, was und wer am Bildschirm erscheint und nicht mehr, warum. Das digitale Bild dominiert unser Bildbewusstsein. Fällt das Bild aus, so füllt ein Rauschen das Loch im Kopf.

Wo am meisten Kommunikation herrscht, tauchen jedoch auch die grössten Schwierigkeiten auf. Das gilt auch für den Stadt-Diskurs, der mit tausend und einer Frage zwar jedes Gehirn stresst, dafür die Renaissance der Urbanität feiert: Wohin bewegt sich die Stadt heute? Welche Städte braucht der Mensch? Welche Stadtbilder bringt uns die Zukunft? Gibt es eine Stadt ohne Urbanität?

Nach Jahrzehnten, in denen das Thema aus der Mode gekommen schien, "trägt man wieder Stadt", stehen "Die Städte der Welt und die Zukunft der Metropolen" (so die Aufrufe zu Symposien) seit einigen Jahren auf internationaler Ebene wieder vermehrt zur Diskussion. Die Literatur zu Architektur, Städtebau, Stadtkultur und Urbanität blüht. Das Credo "Sex is my religion" der Jungfrau Madonna wandelt sich beim städtischen Intellektuellen in, "Die Stadt ist meine Religion, sie peitscht meine Kreativität an und zugleich zehrt sie an meiner Lebenskraft." (frei nach den Worten des französischen Philosophen Michel Serres) Der Stadtkörper wird begehrt und gleichzeitig verflucht, geliebt und gehasst. Befriedigt er die Phantasie des Künstlers?



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