Stadt körper Denken
Paranoia & Barbarismus / Das Sarajevo Ghetto-Theater
Die Metropole wurde zum Moloch in der Moderne und Postmoderne.. Angesichts
der Mitte der sechziger Jahre verkündeten "Unwirtlichkeit der Städte"
(Alexander Mitscherlich) und der Entwicklung der gigantischen
Agglomerationen von heute - besonders in der dritten Welt - stellt sich die
Frage, ob die Idee der Stadt nicht längst unzeitgemäss ist.
In Kairo wächst die Bevölkerung jeden Tag um tausend Einwohner, und niemand
weiss genau, wieviele Menschen in der "Mutter aller Städte" (so ein
Reiseführer) leben: 9, 12 oder gar 18 Millionen? Ausländern wird das Wesen
der Hauptstadt Argentiniens, Buenos Aires, von Einheimischen in Kürzestform
erklärt: "un quilombo - ein Puff." Das steht für ein positives
Lebensgefühl, denn in argentinischen Augen gibt es wohl nichts
Langweiligeres als europäische Städte wie Regensburg, wo unheimliche Ruhe
herrscht und das Leben in Ordentlichkeit erstickt. In Megalopolen wie Rio
de Janeiro kursiert der Begriff der "paranoia urbana" (Stadt-Paranoia),
womit etwa die Reaktion von Hunderten von Bankkunden gemeint ist, welche an
einem Märztag '95 die Fehlzündungen eines Autos für Schüsse hielten und
sich spontan zu Boden warfen; die Sicherheitsbeamten der Bank zogen die
Revolver.
Künftig werden noch grössere Probleme auf die Städe zukommen. Einige
Stichworte: Autos (die Durchschnittsgeschwindigkeit auf Londons Strassen
beträgt 18 km/h), Lärm, Müll, Drogen, Obdachlose, Migration, Multikultur
und grenzenloser Wirtschaftsmarkt. Stadtplaner sind solchen Kräften nicht
mehr gewachsen. Nicht von der Stadt droht deshalb Gefahr, sondern die
Städte selbst erscheinen verletzbar, ohnmächtig, zutiefst gefährdet.
Der Kulturpessimist Oswald Spengler meinte aus der Beobachtung antiker
Zivilisationen schliessen zu können, dass der "unheimliche Koloss
Weltstadt" (heute würden wir von Megacity oder Megalopolis sprechen) immer
das Ende einer kulturellen Epoche anzeige. Babylon, Karthago, Atlantis und
Alexandria sind untergegangen oder zerstört worden. Heute überfällt die
Zerstörungswut der Tschetniks Städte wie Vukovar, Dubrovnik, Mostar und
Sarajevo. "Es ist", wie Karl Markus Michel schreibt, "ein ehrwürdiger
barbarischer Brauch, seine Feinde nicht nur an ihren Leibern zu strafen,
sondern auch an ihren Steinen, die ja, wie Poseidonios in alten Zeiten
sagte, der Ausdruck der Seele sind."[7] Deshalb werden im Krieg
Kulturdenkmäler zerstört, Museen und Bibliotheken geplündert und
ausgeraubt, Städte dem Erdboden gleichgemacht.
Das Ende der Stadt oder das Ende der Menschen in Sarajevo? Diese Frage
stellt sich beim Video "Sarajevo Ghetto Spectacle" des 38jährigen Künstlers
Sanjin Jukic.[8] Wer vor dem collagierten Fries der aus der Weltpresse
stammenden Bilder von Kriegsopfern steht, erlebt Betroffenheit und Trauer.
Die Belagerung der Stadt verkommt zum Ghetto-Theater, ein Infotainment für
den Medienkonsum. Der voyeuristische Kriegsjournalismus hat zu allmählich
lauter werdenden Abwehrreaktionen geführt: "Wir wollen nichts mehr über
Sarajevo wissen, hören oder sehen."
In Jukics Video, ein unter schwierigsten Bedingungen entstandener
Anti-Videoclip in Hollywood-Ästhetik, hört der Zuschauer die Totenstille,
er riecht den Gestank einer Stadt ohne Müllabfuhr, ohne Wasser, um
Toiletten zu spülen; kein Gas, um zu kochen, keine Elektrizität, um zu
heizen, keine Tinte, um zu schreiben. Die Zerstörung von Sarajevo ist eine
Warnung an Rest-Europa, sich über den eigenen Kosmopolitismus keine
Illusionen zu machen. Sarajevo ist nur die Speerspitze dessen, war überall
in Europa passiert: Der Islam taucht als neues Feindbild auf, Minderheiten
können nur noch in Ghettos existieren. Die in Sarajevo lebende
Künstlergruppe "Trio" hat 1993 unter Kriegsbedingungen eine Postkarte
gedruckt: Mona Lisa mit einer Träne auf der Wange vor der Kulisse der
belagerten Stadt.
Im Jahr 2000 wird erstmals in der Weltgeschichte mehr als die Hälfte der
Weltbevölkerung in Grossstädten wohnen oder vegetieren. Im Jahre 2025 wird
die Stadtbevölkerung voraussichtlich 65 Prozent ausmachen. 21 Megacities
mit jeweils mehr als 10 Millionen Einwohnern sind am Entstehen. So stellt
sich die alte Frage nach dem Überleben in der Stadt wieder neu: Sind die
Metropolen von morgen noch bewohnbar, bezahlbar und regierbar?
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