Stadt körper Denken
Apokalypse & Agglomeration / Der urbane Wahnsinn ist überall
Das Denken ist städtisch, und die Stadt ist die Verkörperung des Denkens.
Urbanität und Intellektualität, Städtebau und Ideenlehre sind zwei Seiten
der gleichen Medaille.[9] Wenn es richtig ist, dass das Denken und die Stadt
seit der griechischen Polis zusammenfallen, dann müssten für die
Stadtreflexion nicht mehr die hiesigen Metropolen, sondern die Megastädte
der Dritten Welt relevant sein.
Der deutsche Stadtphilosoph Hartmut Böhme stellt ungern gehörte Fragen:
"Bleibt der Philosophie angesichts der steuerungslosen Elendsfelder der
Megapolen nur das Stummwerden? Nach dem Humanismus, dem die Städte eine
Heimstatt zu geben suchten, nun der Nihilismus der Riesenstädte? Die Wüste?
Hat die Philosophie die tragende Verschwisterung mit der Geschichte der
Städte verloren?"[10]
Die Agonie des westlichen Stadtdiskurses mündet in den Zynismus, die
Megapolen einem unbestimmten Schicksal zu überlassen. Die Wissenschaftler
halten sich an die braven Metropolen des Westens, die sich risikolos aus
der Nähe studieren lassen. Die wie Vulkane brodelnden und pulsierenden
Megastädte des Südens sind ihnen zu heiss. In der Tat ist es einfacher, ein
rekursives Selbstdenken des Denkens zu pflegen, als ein offenes, mobiles
und risikofreudiges interkulturelles Denken zu initiieren, das "das Andere"
mitdenkt, und so auch ein anderes Denken impliziert und fördert.
Lieber flüchtet man sich in die Wüste, in die Leere, schwelgt zwischen
Naturgeschichte und Metaphysik, statt sich der totalen Vielfalt des
rhizomartigen Wucherns der Metropolen zu stellen, in denen das Gute und das
Böse masslos wüten. Wer sagt denn, dass die gigantischen Städte des Südens
gefährlicher und gewalttätiger sind als die des Nordens? Ist das Chaos nur
in der Dritten Welt zu Hause? Den Megapolen der Welt haftet etwas
Apokalyptisches an. Warum nur? Ein menschlisches Gesicht, auf einen
Bankomaten geschmiert, ein Mann wird in der Badewanne ersäuft oder die
Ehefrau mit dem Küchenmesser zerstückelt - Taten urbanen Wahnsinns gibt es
selbst im bayrischen oder ostfriesischen Dorf.
"Die Megapolen des Südens sind", so der Schweizer Schriftsteller und
Afrikakenner Al Imfeld, "Knotenpunkte in einer endlosen Migrationsschnur
nach Europa."[11] Die neuen Städte, meint der bekannte iranische Autor Mahmud
Doulatabdi, seien Abbilder alter imperialer oder kolonialer Städte:
"Babylon, Athen und Rom setzen sich in Paris, Amsterdam und London fort.
Diese wiederum wuchern über und aus nach Algier, Djakarta und Nairobi."
Jede Megastadt der Dritten Welt steht in einem Bezug zueiner westlichen
Stadt und umgekehrt.
Glaubt man den Worten der mexikanischen Schriftstellerin Carmen Boulosa,
steht uns die Archäologie der Metropole bevor, weil uns der Zorn der Ahnen
getroffen hat: "Wenn Mexico City in den letzten Jahren um sieben Meter
gesunken ist, so sind die Ruinen des Templo Mayor der Azteken an ihrem
alten Ort unverrückbar stehen geblieben; deshalb wirkt der Tempel heute
viel höher, fast elitär und hochmütig."
Wo die westlichen Denker versagen, tauchen plötzlich Künstler mit Übersicht
auf, die weder auf unsere Städte noch auf die Megapolen blicken, sondern in
den Gesetzen von "Siedlungen, Agglomerationen" (Buchtitel) das Bewusstsein
unserer Existenz entdecken.[12] Die Schweizer Künstler Peter Fischli und
David Weiss richten ihren liebevollen Blick von Schwamendingen bis Urdorf
sowohl auf verwechselbare Formen von Behausungen zwischen Zebrastreifen,
Strassenkreuzung und Naturkulisse wie auch auf Klischees hinter den
Fassaden. "Die 'kleine Welt' webt sich - kaum mehr spitzbübisch wie auch
schon bei Fischli/Weiss - in globale Dimensionen." (Bernhard Bürgi)
Agglomerationen erscheinen in den Fotos von Fischli/Weiss als beliebige
Orte, die weder der Stadt noch dem Land zugehörig sind, sondern irgendwo in
einem Zwischenraum wuchern. Die Agglomeration ist, wie die Schriftstellerin
Isolde Schaad treffend formuliert, ein "'terrain vague' am Rande der Stadt,
die ausfranst, übergeht in eine Scholle, die nicht nach Heimat riecht oder
nach Brauchtum, sondern nach Ausgrenzung, Fremdheit, Asyl".
[13]
Die städtischen Agglomerationen entpuppen sich bei genauerem Hinsehen nicht
als "Orte grosser Freiheit", sondern als "Deponien des Fortschritts"
(Schaad): "Einerseits herrscht hier in vielen Dingen fast unbegrenzte
Toleranz und Diskretion, andererseits aber ist das nicht Ausfluss eines
positiven Interesses am Mitmenschen, ja nicht einmal besonderer
Rücksichtnahme, sondern purer Gleichgültigkeit."
[14]
In Frankreich spricht man von den "heissen" Agglomerationen, von
Krisengebieten, wo vor allem Migranten, Unterprivilegierte, Arbeitslose und
Drogensüchtige leben, wo sich schon die kleinste Spannung in gewalttätigen
Ausschreitungen entladen kann. Die "heissen" Fotos von Fischli/Weiss sind
mit einer geradezu berechnenden Kaltblütigkeit aufgenommen. Das
Künstlermännerpaar erfindet oder komponiert nichts. Es geht ihm nicht ums
Abbilden, wichtiger ist das Beobachtete. Was zwischen den Dingen und
(Häuser-)Zeilen liegt, wirft beunruhigende Fragen auf: Führt der
Agglomerationsschweizer ein erfülltes, glückliches und zufriedenes Leben?
Oder ist, im Gegenteil, die Agglomeration die Apokalypse urbaner
Zivilisation?
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